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15.11.2023

Drei Gestaltungsvorschläge für den Gedenkort "Synagoge" an der Kongresshalle

[Nachtrag vom 05.12.2023: In einer Beschlussvorlage hat der Magistrat der Stadt Gießen nach Beratungen mit der Jüdischen Gemeinde und den Denkmalbehörden den Stadtverordneten empfohlen, sich für die Variante "Versammlung" und zusätzlich eine Ausstellung in der Kongresshalle auszusprechen. Die Abstimmung findt in der nächsten Sitzung  am 21. Dezember statt.]

Ein Erinnerungsort für jüdisches Leben in Gießen soll vor der Kongresshalle entstehen - an dem Ort im Herzen der Stadt, wo einst die liberale große Gießener Synagoge stand. Sie wurde 1938 im Zuge der "Reichspogromnacht" von den Nationalsozialisten zerstört. Überraschend wurden Ende 2022 im Zuge von Bauarbeiten Reste dieser Synagoge gefunden. Das hatte die Gießener Stadtverordnetenversammlung auf Vorschlag des Magistrats dazu bewogen, einen Beschluss zu fassen: es sollten Vorschläge erarbeitet werden, wie dort eine zeitgemäße Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit gestaltet werden könne. 

Der Magistrat hatte damit das in Gedenkstättenarbeit renommierte Büro Wandel Lorch Götze Wach aus Frankfurt beauftragt. Jetzt liegen die Ergebnisse vor: Die Architekten haben unter Berücksichtigung der Ergebnisse eines Fachkolloquiums zum Thema und unter Beteiligung der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, der Denkmalbehörden und der Stadthallen GmbH als Betreiber der Kongresshalle drei Vorschläge erarbeitet. Auf Einladung von Oberbürgermeister Becher und der für Denkmalschutz zuständigen Dezernentin Eibelshäuser wurden diese nun im Rathaus präsentiert. 

Die Stadtverordnetenversammlung wird im Dezember entscheiden, welcher der Vorschläge umgesetzt werden soll. Die Vorschläge sind nachfolgend dtailliert beschrieben und derzeit auch im 3. Stock des Rathauses vor dem Stadtverordneten-Sitzungssaal ausgestellt.


Variante Eckstein

Der Entwurf des Ecksteins nimmt die architektonische Bautradition desselben auf und interpretiert sie neu. Historische Ecksteine, die bereits in der Antike unter dem Namen "Akrogoniaíos" vorkommen, waren behauene und teilweise aufwändig angeordnete Steine, die an den Ecken von Bauwerken verwandt wurden und maßgeblich zur Gestaltung und Funktion als Eckschutz beitrugen. Bei dieser Gestaltungsvariante werden mehrere Ecksteine mit aus Holz gefertigten Körpern (1,60 x 0,8 x 0,8 Meter) nachgebaut und nachempfunden. Die ehemalige Gießener Synagoge an der Südanlage war zwar das gebaute Zentrum des religiösen jüdischen Lebens, das kulturelle Leben und die Jüdinnen und Juden Gießens waren jedoch überall im Stadtgebiet präsent.

In dieser Metapher werden die hölzernen Ecksteine über die Stadt Gießen verteilt und z.B. in der heutigen Jüdischen Gemeinde, der Kongresshalle, dem Rathaus, der Universität etc. aufbewahrt. In und auf den Ecksteinen vermitteln Exponate und Texte Inhalte zum Thema der jüdischen Kultur und verweisen gleichzeitig auf die Funde und den historischen Ort an der Südanlage. Dort wird der ehemalige Grundriss der Synagoge im Außenraum durch Werksteinelemente nachgezeichnet, Unterbrechungen vermitteln den Betrachtenden die Fensterachsen der Synagoge. Die Bauhöhe der Werksteine lädt zum Sitzen und Verweilen ein und macht den Synagogenraum auch durch eine spezifische Bepflanzung erlebbar. Analog zu den Gottesdiensten, in denen sich die Gießener Jüdinnen und Juden in der Synagoge versammelten, können die über Gießen verteilten Ecksteine zu besonderen Anlässen oder Veranstaltungen, wie z.B. dem 9. November, an den historischen Ort der Synagoge verbracht werden. Die stapelbaren Eckstein-Elemente bauen damit einen Teil der Synagoge wieder auf, der sonst überwiegend horizontal angelegte Ort wächst zu diesen Anlässen in die Höhe. Der Aufwand, die Elemente zu bewegen, soll dauerhaft die Bereitschaft der Gießener Stadtgesellschaft dokumentieren, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und ist daher ausdrücklich erwünscht. Es entsteht damit kein fertiger, sondern ein dynamischer Ort, so wie das Erinnern und Gedenken nie abgeschlossen sein wird, sondern stetigen Wandel bedeutet.


Variante Versammlung

Der Entwurf der Versammlung basiert auf dem hebräischen Namen für Synagoge "Beth Knesset" - wörtlich übersetzt "Haus der Versammlung". Ziel ist es, den Fokus der Betrachter*innen nicht allein auf die Synagoge als Bauwerk zu lenken, sondern auf die Menschen und deren Kultur im Inneren. Insofern werden die Gebetsbänke der Synagoge durch Werkstein nachgebildet. Typologische Elemente wie der Mittelgang, aber auch die Anzahl der Personen werden damit erfahrbar. Auch heute sollen die Bänke als Ort zum Versammeln dienen und eine hohe Aufenthaltsqualität für den Stadtraum bieten. So können hier Gruppen, Schulklassen aber auch einzelne Bürger*innen verweilen und es wird gleichzeitig ein Raum für Diskurs, Diskussion und Austausch geschaffen.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Kommentierung der Shoa. Etwa ein Drittel der Bänke werden weggenommen und im Stadtraum verteilt, so dass ein unvollständiges Bild entsteht und die Betrachter*innen sofort den Bruch und die Fehlstellen erkennen. In die Werksteinbänke selbst sind die Namen der ehemaligen Gemeindemitglieder und Opfer in hebräischer und deutscher Schrift eingeschrieben. Als Ort zum Verweilen tragen sie zum Stadtraum bei und verweisen mit Inschrift und QR-Code auf den authentischen Ort der ehemaligen Synagoge an der Südanlage. Die verteilten zehn Bänke bilden eine Analogie zur jüdischen Gemeinde, deren religiöses Zentrum die Synagoge war, die kulturell jedoch in der gesamten Stadt Gießen präsent war. Die Anzahl zehn bezieht sich auf den "Minjan", die Mindestanzahl an mündigen Personen, die für die Durchführung eines jüdischen Gottesdienstes erforderlich ist. Die zehn Orte jüdischen Lebens werden im Dialog mit der Stadtgesellschaft festgelegt.

Zu Veranstaltungen oder besonderen Anlässen können die im Kontrast zu den Werksteinbänken im Leichtbau konzipierten Bänke zur Kongresshalle transportiert werden. Hier ergibt sich damit ein vollständigeres, aber niemals ein unversehrtes Bild. Der damit verbundene Aufwand soll dauerhaft die Bereitschaft der Gießener Stadtgesellschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema dokumentieren und ist daher ausdrücklich erwünscht. Es entsteht damit kein fertiger, sondern ein dynamischer Ort, so wie Erinnern und Gedenken nie abgeschlossen sein werden, sondern stetigen Wandel bedeuten.

Um den Ort auch in der Fernwirkung erlebbar zu machen und die Geschichte der Überlagerung von Synagoge und Kongresshalle zu zeigen, wird mittels Beamer ein Bild der Synagoge an authentischer Stelle auf Teile der Fassaden der Kongresshalle projiziert. Die vorhandenen Zeitschichten der Synagoge, der Kongresshalle und ihrer Außenanlagen überlagern sich und bleiben wahrnehmbar. Das Konzept sieht vor, eine weitere Zeitschicht in Form der Bänke hinzuzufügen, ohne wesentlich in den Bestand einzugreifen.


Variante/Ergänzung: Ausstellung in der Kongresshalle

Ausstellung in der Kongresshalle mit Fenster zum Außenbereich
Ausstellung in der Kongresshalle mit Fenster zum Außenbereich

Die Ausstellung an der Innenwand der Kongresshalle beschränkt sich auf einen szenografischen Ausblick im Foyer und soll von der Popularität und Pluralität der Besucher dieses Veranstaltungsortes profitieren. Mit wenigen Exponaten, wie einigen der bei den Ausgrabungen gefundenen Steinfragmenten und der originalen Gedenktafel aus der Bauzeit der Kongresshalle sowie einem gezielten Fensterausblick auf den authentischen Ort im Außenbereich werden die Besucher der Kongresshalle mit dem Thema in Verbindung gebracht und dazu angeregt, sich mit der Geschichte des Ortes und ihren Zusammenhängen und Zwängen auseinanderzusetzen.

Der Grundriss der Synagoge wird im Innenraum der Kongresshalle auf den Boden aufgetragen und stellt so den Bezug zum authentischen Ort her. Über einen QR-Code und eine Web-App können vertiefende Informationen abgerufen werden und Bezüge zum Netzwerk innerhalb Gießens, wie z.B. dem Oberhessischen Museum, hergestellt werden. Eine Web-App ermöglicht Zugriff auf eine digitale Rekonstruktion der Synagoge, bietet vertiefende Informationen zu den jüdischen Gemeindemitgliedern und Opfern, auch mehrsprachig. Der Außenbereich ist in seiner Funktionalität und Verständlichkeit nicht vom Innenraum abhängig. Diese Variante kann ebenso wie ein Bronzemodell der Synagoge im Außenbereich entweder den Gestaltungsvorschlag "Eckstein" oder den der "Versammlung" ergänzen bzw. vervollständigen.


Hintergrund zum Verfahren und dem beauftragten Architekturbüro

Der Magistrat beauftragte das Büro Wandel Lorch Götze Wach Architekten, Frankfurt, drei Vorschläge für einen würdigen Umgang mit den Mauerresten und der besonderen Historie zu erarbeiten, um eine Grundlage auch für eine Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung vorliegen zu haben. Die Projektsteuerung hat die Untere Denkmalschutzbehörde mit Frau Stuchtey und Herr Rauch übernommen.

Wandel Lorch Götze Wach (WLGW) ist ein international bekanntes Architekturbüro, das als Gestalter historischer Erinnerungsorte ein ebenso eigenständiges wie einzigartiges Profil besitzt. Seit mehr als 30 Jahren setzt sich das Büro intensiv mit der Frage auseinander, wie Geschichte räumlich und baulich festgehalten bzw. fortgeschrieben werden kann. Dazu gehören Referenzprojekte wie beispielsweise die Gedenkstätte "Gleis 17" in Berlin-Grunewald (1998), der Neubau der Synagoge in Dresden (2002), das Jüdische Zentrum Jakobsplatz in München (2006/07) oder das Besucherinformationszentrum der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (2006/07). Zu den zahlreichen Auszeichnungen des Büros zählt z.B. der Hessische Kulturpreis 2019, mit dem das Büro für seinen Beitrag zum Dialog der Kulturen und zur Sichtbarmachung des jüdischen Lebens in Deutschland geehrt wurde.

Den Auftakt des mehrstufigen Prozesses bildete ein interdisziplinäres Fachkolloquium mit rund 50 Teilnehmern am 30. Juni 2023, bei dem die verschiedenen Perspektiven der jüdischen Gemeinde, der Stadt Gießen, der Bau- und Kunstdenkmalpflege, der Archäologie, der Bauherren, der Historiker sowie die grundsätzlichen Anforderungen und Erwartungen, aber auch Grenzen im Hinblick auf die Erinnerungskultur diskutiert wurden. Darauf aufbauend erarbeitete das Büro WLGW in einem intensiven und dialogischen Prozess Gestaltungsvarianten für einen angemessenen Umgang mit den Synagogenfunden unter Berücksichtigung der Überbauung durch die Kongresshalle und ihrer geplanten Erweiterung. Bei regelmäßigen Treffen der Arbeitsgruppen, bestehend aus den Architekten und Vertretern der Stadt Gießen, der Jüdischen Gemeinde, des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen (Bau- und Kunstdenkmalpflege, Archäologie), der Unteren Denkmalschutzbehörde und der Stadthallen GmbH wurden Gestaltungsvarianten, Anregungen und Wünsche diskutiert, kommentiert und abgestimmt. Dabei wurden die prägende Architektur und die von Markelius detailliert geplanten Außenanlagen ebenso berücksichtigt wie der Schutz des alten Baumbestandes und die restauratorisch-konservatorischen Vorgaben der Archäologie. Das Ergebnis sind insgesamt drei Varianten, die im Rahmen der Präsentation am 14.11.2023 von Herrn Prof. Wolfgang Lorch und Herrn Florian Götze vom Büro WLGW dem Fachkolloquium und der Öffentlichkeit vorgestellt wurden.

Die Entscheidung über die Realisierung des Projektes und damit die Auswahl der Umsetzungsvariante liegt bei der Stadtverordnetenversammlung. Diese wird voraussichtlich in der Sitzung im Dezember 2023 über die auszuführende Variante entscheiden.


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